Jan und die Krabbe
- von Falk Maasdorf
Am Samstagtagmorgen läutete die Sonne einen wunderschönen warmen Tag ein. Die See war ruhig und die Möwen flogen Kreise über dem Strand. Die ausgewachsenen Schafe auf den Deichen grasten, während ihre Lämmer über die saftigen Wiesen tollten. Es dauerte nicht lange, bis die ersten Familien zum Badestrand kamen und ihre Handtücher im Sand ausbreiteten. Während die Eltern Sonnenschirme und Strandmuscheln an ihren Plätzen aufbauten, kramten die Kinder ihre Sandspielsachen aus den mitgebrachten Badetaschen. Von Eimerchen, über Schaufeln, Siebe und Förmchen wurde alles ausgepackt und in Windeseile rundherum verteilt.
„Mama? Wo sind die Kekse?“, fragte der sechsjährige Jan seine Mutter, während er hungrig in der großen Handtasche seiner Mutter wühlte.
„Kannst du bitte einen Moment warten und nicht all unsere Sachen im Sand verteilen? Papa und ich bauen erst die Strandmuschel auf, damit du vor der Sonne geschützt bist. Außerdem müssen wir dich noch eincremen“, antwortete sie ihm. „Wir sind noch nicht mal richtig angekommen und du hast nur das Essen im Kopf!“
„Ja, aber ich habe jetzt Hunger. Außerdem muss mein Bauch voll sein, sonst habe ich keine Kraft die Sandburg zu bauen. Papa sagt immer, dass man groß und stark sein muss, um ordentlich arbeiten zu können. Also, wo sind die Kekse?“
Resignierend ließ sie die halbfertige Strandmuschel fallen und lief zu ihm, um eine lautstarke Diskussion zu vermeiden. Schließlich wollte sie den anderen Familien nicht die Laune am Baden verderben. Aus einer Plastiktüte holte sie eine große Packung Kekse, öffnete sie und gab Jan, was er wollte.
„Setz dich bitte auf die Decke und iss in Ruhe. Ich creme dir in der Zwischenzeit den Rücken ein“, fügte sie hinzu, während sie nach der Sonnencreme griff.
Andere Eltern führten ähnliche Gespräche mit ihren Kindern. Es wurde gecremt, versorgt, Plätze mit Decken hergerichtet und Schwimmärmel und Matratzen aufgepustet. Die Sonne kletterte am Himmel weiter nach oben und gab so viel Wärme ab, dass es nicht lang dauerte, bis die ersten Badegäste ins Meer gingen, um sich abzukühlen. Unter ihnen war auch Jan mit seinen Eltern.
„Aua!“, rief Jan plötzlich, während er auf einem Bein aus dem Wasser hüpfte. „Irgendwas hat mich gebissen!“
Seine Mutter, die bis eben neben ihrem Sohn stand, erschrak und lief ihm besorgt nach. „Zeig mal her!“, forderte sie ihn auf, während er sich in den Sand setzte und den linken Fuß mitten in ihr Gesicht streckte.
„Da, an der kleinen Zehe! Das ist ganz rot!“, sagte er verärgert.
Seine Mutter konnte nichts sehen. „Vielleicht bist du auf eine Muschel getreten, Jan. Lass uns zurück ins Wasser gehen. Es kühlt deine Zehe und dann tut es nicht mehr weh“, versuchte sie ihn zu beruhigen.
Er nickte und folgte ihr. Kurz darauf tobte er mit seinem Vater durchs Meer, während die Mama zurück auf der Decke ihren Körper in der Sonne bräunte. Einige Augenblicke später rannte Jan zu ihr und spritzte sie nass. Weil auch seine Füße nass waren, klebte Sand an ihnen. Das sollte ihn allerdings nicht davon abhalten, quer über die Decke zu rennen, um die Kekspackung erneut an sich zu nehmen.
Er riss das Papier der Verpackung ab und warf es in den Sand, während er zu seiner bereits angefangenen Sandburg ans Wasser lief. Dort angekommen ließ er die Kekse in den Sand fallen und widmete sich dem Bau der Festung. Als er nach dem Eimer greifen und ihn mit Wasser füllen wollte, zwickte ihn erneut etwas an seinem kleinen Zeh.
„Aua!“, rief er so laut, dass sämtliche Gäste des Badestrandes es hören konnten. „Mich hat schon wieder was gebissen!“
„Schatz, geh du bitte nachsehen, was er hat!“, forderte Jans Mutter den Vater auf. Als ich vorhin guckte, war nichts zu sehen. Vielleicht hast du ja mehr Glück.“ Der Papa erhob sich von der Decke und lief zu Jan. „Das war sicher ein Hai!“, scherzte er lächelnd, als er zu ihm kam.
„Das ist nicht witzig, Papa! Guck doch, mein Zeh wird dick und blau!“, brummte Jan wütend, während er auch seinem Vater den Fuß ins Gesicht drückte, um die vermeintliche Wunde zu zeigen.
„Ich kann aber nichts sehen, Jan. Deine Zehe ist genauso groß und rosa wie sonst auch. Kein Blau, keine Schwellung. Ich suche gern den Strand ab, um den Hai zu finden, der dir das angetan hat“, sprach er scherzend.
„Warts ab Papa. Euch wird es auch noch beißen und ich werde euch nicht helfen!“, antwortete Jan seinem Vater beleidigt, während er wütend seine Sandburg zerstampfte.
„Ich geh zurück zu deiner Mutter auf die Decke, wenn du dich beruhigt hast, kannst du gern zu uns kommen.“ Doch Jan hörte nicht darauf und rannte noch vor seinem Vater zur Decke. Er trampelte über seine Mutter hinweg, um ihre Handtasche auszukippen und nach den Bonbons zu suchen. Bevor sie reagieren konnte, griff er sich einige Schokoladenbonbons und lief zurück zu seiner zerstörten Sandburg. Als er das Bonbonpapier mit dem Zeigefinger in den Sand steckte, schnappte ihn plötzlich etwas an der Fingerkuppe und zwickte ihn. Jan schrie laut auf und riss seine Hand in die Luft. Als er sah, wer ihm solche Schmerzen bereitete, schrie er noch lauter.
„Papaaaaaaa, komm schnell! An meinem Finger hängt eine Krabbe!“
Sein Vater sprang von der Decke auf, um nach Jan zu sehen. Doch nur wenige Sekunden nachdem Jan laut aufschrie, war er wieder ruhig. Sein Vater erblickte ein junges Mädchen, das neben Jan saß und mit ihm sprach.
„Sieh mal Schatz, unser Sohn hat eine neue Retterin“, scherzte er lachend und deutete mit dem Blick auf Jan. Seine Frau setzte sich auf und beobachtete neugierig die Kinder.
„Halt still, ich helfe dir!“, sagte das Mädchen bestimmend, während sie Jans Hand festhielt, um die Krabbe von seinem Finger zu lösen. Sie hielt beide Hände unter die Krabbe und sprach: „Du kannst ihn loslassen, er wird es nicht wieder tun.“ Kurz darauf löste sich das Tier von dem Finger und ließ sich in die warmen Hände des Mädchens fallen.
„Hast du eben mit der Krabbe gesprochen?“, fragte Jan erstaunt, während er froh darüber war, seine Finger vollzählig an der Hand zu wissen.
„Ja, habe ich. Er macht das immer, wenn Menschen ihren Müll am Strand verteilen. Sieh mal, …“, sprach sie, während sie auf den Weg deutete, der sich von Jans Sandburg bis zur Decke seiner Eltern erstreckte.
„Überall liegen Schnipsel deiner Kekspackung. Und da hinten liegt der Strohhalm deiner leeren Trinkpackung. Ich habe dich schon die ganze Zeit beobachtet und wusste, dass er es ist. Weißt du, der Hagemauk lebt hier, neben vielen anderen Wesen. Viele Tiere halten den herumliegenden Müll für Futter, weil es danach riecht und fressen dann davon. Dass sie daran sterben können, bedenken nicht viele Menschen. Oder es ist ihnen einfach egal. Und dann kommt Hagemauk“, erklärte das Mädchen, während sie die Krabbe behutsam aus ihren Händen zurück ins Meer setzte.
“Ich habe ihn vor zwei Jahren hier kennengelernt. Allerdings war ich mit Freunden da oben“, erzählte sie, und zeigte dabei auf eine nahe gelegene Düne.
„Wir kletterten über eine Absperrung und spielten auf der Wiese, auf denen auch eine Herde Schafe weidete. Wir achteten nicht besonders gut auf sie. Die Lämmer waren ängstlich und rannten aufgeregt umher. Wir versuchten sie mit abgerupftem Gras zu füttern, doch sie hatten Angst. Dann liefen wir schnell hinter ihnen her und hielten es für ein Spiel. Bis schließlich eines der ausgewachsenen Schafe auf mich zu rannte und immer wieder seinen Kopf gegen mich rammte. Auch meine Freunde wurden nun von dem Schaf angeschupst, was uns aber nicht davon abhielt, zu bleiben. Das Tier beruhigte sich irgendwann. Wir setzten uns auf die Wiese und redeten. Auch hatten wir Essen und Getränke dabei. Wir warfen die Verpackung einfach auf die Wiese, bis schließlich das Schaf auf uns zulief, den Müll in sein Maul nahm und uns damit bewarf. Immer und immer wieder warf es den Müll nach uns. Kurz darauf gab es einen hellen Lichtblitz und das Schaf war weg. Vor uns stand ein Zwerg, mit rotem, gelocktem Haar. Er trug einen übergroßen Muschelrucksack und schüttelte aufgeregt seinen Kopf und sprach: „Ich mag euch wirklich, aber nehmt euren Müll mit und lasst die Tiere in Ruhe. Die Lämmer haben Angst und können es euch nicht sagen. Mehr als weg rennen können sie nicht. Ich bin hier, um all jenen zu helfen, die es brauchen. In diesem Moment ist es diese Herde. Bitte seid so aufmerksam und achtet zukünftig besser auf euch und eure Umwelt. Lasst uns alle lieb zueinander sein. Ich heiße übrigens Hagemauk.“
Wir wussten im ersten Moment nicht wie uns geschah und erschraken. Als wir aber merkten, dass er nicht böse ist und Gutes will, beruhigten wir uns. Wir entschuldigten uns und gingen von der Wiese. Seit dem Tag komme ich oft hier her, um ihm zu helfen.“
„Oh, dann weiß ich warum er mich drei Mal gebissen hat“, sprach Jan einsichtig. „Ich werde sofort alles aufräumen“.
Er erhob sich aus dem Sand und räumte seinen Müll weg. Das Mädchen half ihm und baute anschließend mit Jan gemeinsam eine neue Sandburg. Kurz bevor sie den letzten Turm der prächtigen Burg fertigstellten, tippte das Mädchen Jan sanft auf die Schulter und deutete mit ihrem Blick auf den Rand des Wassers.
Zu sehen war ein rot gelockter Kopf, der lächelnd aus dem Wasser blinzelte und schließlich darin verschwand. Die Kinder sahen ihm hinterher und schworen sich gemeinsam, dem Hagemauk zukünftig zu helfen.
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